Über Marillion, Tolkien und weiße Federn
Misplaced Childhood, das Konzeptalbum, das die britische Neo-Prog-Band Marillion einem breiteren Publikum bekannt machte, ist in diesem Sommer 40 Jahre alt geworden (was erstaunt, denn ich selbst kann im selben Zeitraum unmöglich ebenfalls 40 Jahre älter geworden sein). Ich erinnere mich, dass ich dieses Album auf meinem Walkman (!) gehört habe, während ich mit gebrochenem rechten Fuß im Krankenhaus lag. Und da ich dort mehr Zeit hatte, als mir lieb war, habe ich im Krankenhaus auch erstmals Tolkiens Der Herr der Ringe gelesen. Das Buch hat ehrlich gesagt nicht sonderlich viel Eindruck bei mir hinterlassen – das Album dafür umso mehr. 40 Jahre später entdeckte ich dann sogar ungeahnte Zusammenhänge.
Mit wohl keinem Album habe ich mich so so sehr beschäftigt wie mit Marillions Misplaced Childhood. Ich habe dieses Album gehört. Ich habe es mitgesungen. Ich habe es gefühlt wie kein zweites und fühle es bis heute. Die Texte von Sänger Fish haben mir schlagartig klargemacht, dass es etwas gibt jenseits von Liebesschnulzen, in denen sich »Herz« auf »Schmerz« reimt – und mich so ironischerweise auch herangeführt an Liedermacher wie Heinz Rudolf Kunze, für die Marillion nur das »zweitbeste Genesis aller Zeiten« war. (Ich finde, man kann Marillion, Genesis und Kunze gleichermaßen mögen – und sehe die frühen Marillion mit Fish bis heute auch deutlich näher an Pink Floyd als an Genesis, aber das nur am Rande.)
Irgendwann habe ich die Misplaced Childhood dann auch für mich übersetzt. Damals musste ich dazu noch in Wörterbüchern blättern. Definitiv war das ein Vorbote meiner späteren Berufswahl; vielleicht sogar ein Hinweis darauf, dass ich vieles in meinem Leben ganz oder gar nicht machen würde. Denn natürlich musste ich meine Übersetzung im Laufe der Jahre immer wieder überarbeiten, je mehr Wortspiele ich verstand und je mehr Hintergründe mir bewusst wurden. Übersetzen erfordert eben Kontext, Kontext, Kontext.
Ein Lied, das mich auf der emotionalen Achterbahnfahrt namens Misplaced Childhood von Anfang an mit am stärksten angesprochen hat, war der Schlusssong White Feather. Da ich jedoch nicht wusste, was es mit der »weißen Feder« auf sich hat, habe ich ihn nie als Protesthymne oder das Anti-Kriegs-Lied wahrgenommen, das er wohl sein soll. Erst eine Dokumentation über Tolkien auf dem (wichtigen und unbedingt erhaltenswerten) Sender arte öffnete mir diesbezüglich die Augen und schloss den Kreis.
In der englischen Wikipedia findet sich ein ausführlicher Artikel über den auch in Deutschland lange verbreiteten unschönen Brauch, weiße Federn als Symbol der Feigheit an junge Männer zu »verschenken« und sie damit zum Militärdienst zu nötigen. Auch Tolkien war dem ausgesetzt. Seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg flossen maßgeblich in Der Herr der Ringe ein.
Ich möchte ehrlich sein: Literarisch begeistert mich Tolkien bis heute nicht. Möglicherweise hat ihn mir der Missbrauch des »kleinen« Hobbits als Schullektüre frühzeitig vergällt, aber auch, als ich Der Herr der Ringe im Nachgang des Booms um die Kinofilme noch einmal gelesen habe, fand ich ihn nicht gerade fesselnd. Auch die arte-Doku konnte daran nichts ändern. Ich finde zudem, darin wird mehr Weibliches in Tolkiens Welt und Figuren hineininterpretiert, als ich persönlich zu sehen vermag.
Dennoch zeigt sie eines sehr deutlich: Fantasy ist mehr als belanglose Phantasterei ohne Anspruch. Wie Literatur jedes anderen Genres auch ist sie geprägt vom Leben und verarbeitet Erfahrungen. Dass dies in der Dokumentation auf arte einmal ganz deutlich herausgearbeitet wird, war mir ein inneres japanisches Kirschblütenfest.
Zweifellos gibt es Autor:innen, die literarisch gekonnter über Krieg schreiben als Tolkien. Aber man muss Hemingway als Hemingway lesen und Tolkien als Tolkien. Alles andere wäre ein Vergleich von Äpfeln und Birnen. Entsprechend darf man nicht ein ganzes Genre, für das Tolkien in der öffentlichen Wahrnehmung steht, als unseriös abtun. Fantasy lohnt einen genaueren Blick. Das zeigt Tolkien, das zeigt Ursula K. LeGuin, das zeigt Philip K. Dick, um nur einige zu nennen.
Auch wenn ich selbst mich also von Tolkien nicht unbedingt abgeholt fühle, beeindruckt mich sein Schaffen dennoch. Ich ziehe den Hut vor ihm. Denn ich bin mir bewusst, wenn ich Fantasy schreibe, gehe ich einen Weg, den Tolkien ganz wesentlich geebnet hat. Wenn ich auf Elfen und Zwerge zurückgreife, bediene ich mich aus einem kollektiven kulturellen Gedächtnis, dessen Chronist Tolkien war. Selbst, wenn meine Zauberer zaubern, wo es Tolkiens Zauberer allenfalls angedeutet tun, ist das in der bewussten Abgrenzung letztlich eine Referenz an ihn.
Die Erkenntnisse, die ich – Kontext! – dank arte über Tolkien gewonnen habe, ermöglichten es mir, ein lange gesuchtes Puzzleteil für einen Handlungsstrang zu finden. Ich wusste schon länger, dass ich etwas schreiben wollte über eine alleinerziehende Frau, deren Mann gefallen ist. Ihre kleine Tochter ist feinfühlig, konziliant und schlau, verbirgt dies aber, um sich anzupassen.
Was mir fehlte, war ein Element, um diese Figuren stimmig in die Gesamtgeschichte von Die Zeit der Großen Wanderschaft einzubinden. Ich fand es in weißen Federn, die übereifrige Frauen an Männer verteilen, um sie bloßzustellen. Es ist meine Art, mich gegen Gruppenzwang und Mobbing zu stellen – und zugleich Marillion und Tolkien danke zu sagen.