Was wichtig ist
Normalerweise schaffen es die von diversen Internetanbietern als »Nachrichten« präsentierten Meldungen kaum über meine Wahrnehmungsschwelle. Längst habe ich mich nämlich daran gewöhnt, dass die Schlagzeilen mindestens alarmistisch sind, wenn nicht gar bewusst irreführend formuliert – ganz zu schweigen davon, dass die Masse der Meldungen ganz und gar trivial ist, Klatsch und Tratsch mit einem gegen null tendierenden Nachrichtenwert. Aber ist das alles wirklich noch Algorithmus, gesteuert rein vom Interesse der Nutzer, oder ist das schon Manipulation?
Diese Frage stelle ich mir im Grundsatz schon, seit mir »die Lombardis« über ein Jahr lang beinahe täglich virtuell über den Weg gelaufen sind, so dass selbst ich inzwischen weiß, sie heißen Sarah und Pietro mit Vornamen, sind wohl im weitesten Sinne Sangeskünstler, scheinen ihr Geld aber die meiste Zeit damit zu verdienen, »im Gespräch zu bleiben«, was ich persönlich ausgesprochen unproduktiv finde. Aber es sei.
Abgelöst worden sind »die Lombardis« inzwischen übrigens vom Paar Heidi Klum und Tom Kaulitz, dessen Produktivitätsfaktor noch einmal um die Hälfte niedriger liegen dürfte. Aber was diese Leute machen, ist ohnehin unerheblich, denn im Wesentlichen machen sie ja nichts. Entsprechend geht es allein darum, wie ihr Aussehen, ihr Auftreten oder ihre Einlassungen gewertet werden – von Berufskommentatoren, anderen ihnen gewogenen, besser aber noch nicht gewogenen Prominenten, Fans und Nicht-Fans. Oder Bots, Trollen oder an Spaltung interessierten Kräften.
Einhelligkeit, so oft auch sonst dieser Tage der »Zusammenhalt der Gesellschaft« beschworen wird, ist jedenfalls nicht das Ziel. Das zeigt sich auch am Beispiel von Deutschlands Lieblingsintegrantin Helene Fischer. Diese äußerte sich nach den Ausschreitungen in Chemnitz gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit. Dies tat sie mit nicht sonderlich aufrüttelnden oder eindringlichen Worten, sondern lediglich zuckrig-wachsweich mit einigen schmusigen Heile-Welt-Hashtags. In der Folge wurde einen Tag über die Zustimmung berichtet, die Frau Fischer für ihre Positionierung erhielt, am nächsten Tag über die Kritik daran und wieder ein paar Tage später über einen während eines ihrer Konzerte gezeigten Hitlergruß. Bebildert wurden die Meldungen jeweils mit einem Foto von Frau Fischer, lächelnd, breitbeinig, mit ausgebreiteten Armen, in Hotpants und mit Glitzerfransen-Top. Würde Recycling doch nur überall so konsequent betrieben wie in den Fotoredaktionen.
Dieser Kreislauf des Thematisierens einer Selbstverständlichkeit – es gibt Zustimmung und Widerspruch – ist inzwischen derart Standard, dass mich Ausnahmen aufmerken lassen. Eine solche Ausnahme gab den Anstoß zu diesem Blog. Es war der Kommentar von Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel »Der Leib ist kein Ersatzteillager«.
In der Regel schaffen es Prantl und seine SZ mit ihren Schlagzeilen nicht in die Schlagzeilen. An diesem Tag, dem 3. September, schon. Der Vorstoß von Gesundheitsminister Jens Spahn für eine Widerspruchslösung im Bereich der Organspende war gerade erst öffentlich geworden, die Diskussion darüber noch gar nicht in Fahrt gekommen, da sorgten die Algorithmen der Newsfeeds schon dafür, dass die Gegner des Vorschlags den Diskurs dominierten. Es war buchstäblich wie bei Hase und Igel: Die Igel waren nicht nur schon da, sie waren scheinbar auch in der Überzahl. Unter der selben oder zumindest sehr ähnlichen Überschriften kommentierten nämlich etwa auch die Frankfurter Allgemeine (die das Thema im Übrigen in der Rubrik »Wirtschaft« verortete), die Tagespost und katholisch.de.
Ich stimme Prantl und Co. in diesem Fall nicht zu, weil eine Widerspruchslösung aus meiner Sicht just keine gesetzliche Verpflichtung zur Organspende ist. Aber selbstredend respektiere ich gegenteilige Meinungen. Stutzig macht mich nur, dass Befürworter von Spahns Initiative so gar nicht vorkamen. Wo Für und Wider eines Themas einmal wirklich wichtig gewesen wären, fand es nicht statt. So sehr das Netz sonst Synonym für Kontroversen ist – auch der künstlichen, aufgebauschten und herbeifabulierten –, hier suggerierten die Algorithmen vermeintlich Einmütigkeit.
Inzwischen freilich sind wir wieder zur üblichen künstlichen Aufgeregtheit zurückgekehrt: Lilly Becker hat sich nackt abgelichtet, der nicht komische Komiker und nicht fachkundige Fußballfachmann Oliver Pocher, dem Vernehmen nach »Erzfeind« von Boris Becker, hat sich dazu geäußert. Schauspieler Richard Gere ist mit 69 Jahren Vater geworden. Sein deutscher Kollege Peer Kusmagk ist schon Vater und war mit seinem Sohn in der Sauna, wofür er einen Shitstorm geerntet hat. Prinz Harry und Herzogin Meghan haben morgens, mittags und abends Sex. Victoria und Daniel von Schweden trauern um ein geliebtes Familienmitglied. Bei »Bares für Rares« im ZDF war dies los und bei »Die Höhle der Löwen« auf VOX jenes. Fünf Eichhörnchen mit verknoteten Schwänzen konnten gerettet werden.
Alles ist irgendwie gleichrangig. Alles ist irgendwie wichtiger als Politik, Kriege, Naturkatastrophen oder Umwelt. Bunte und Gala sind die einzig maßgeblichen Leitmedien Deutschlands. Ach ja – irgendwas war übrigens auch wieder mit Andrea Kiewel beim ZDF-Fernsehgarten.