Zeitlos?
Nachdem ich mir neulich mal wieder einen alten Aktenordner mit Gedichten von mir vorgenommen habe, ist mir aufgefallen, dass sich weit weniger meiner frühen Werke um mich und meine persönlichen Tribulationen drehen, als ich dachte. Tatsache ist, ich war ein byronesquer Teenager und ein »restless young romantic« und trotzdem mir die wenigsten Gedichte heute noch in Gänze gefallen, sind doch zumindest einzelne Metaphern darin, die ich auch heute noch, fast 30 Jahre später, ganz stark finde.
Ich habe geschrieben über russische Soldaten, die im Afghanistan-Einsatz den Verstand verlieren, über von Todesschwadronen in Chile ermordete Reporter, über Drogensucht, über Umweltzerstörung, über das, was wir heute »sexualisierte Gewalt« nennen, über Menschen, deren Leben nur aus Arbeit besteht und die trotzdem nicht über die Runden kommen, über Ausgrenzung und Ausländerfeindlichkeit.
Durchaus zu meinem Erstaunen war auch Freiheit (oder vielmehr das Fehlen von Freiheit) immer wieder ein Thema. Es waren wohl die klassischen Sinnfragen, die mich bewegt haben. Fragen nach dem Warum. Fragen der Gerechtigkeit.
Immer wieder waren auch die Konflikte der damaligen Zeit ein Thema: der Iran-Irak-Krieg, Apartheid, der Ost-West-Konflikt und damit die mindestens immer unterschwellig vorhandene Angst, irgendein Depp könnte den falschen Knopf drücken.
Vielleicht auch deshalb hatte ich große Mühe zu verstehen, warum bei mir am 15. Juli dieses Jahres, in der Nacht des versuchte Putsches in der Türkei, beinahe alle meine Kommunikationskanäle heiß gelaufen sind, weil mich Menschen in großer Besorgnis gefragt haben, was dort los ist. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass viele offensichtlich das Bedürfnis hatten, die Ereignisse sehr genau und sehr unmittelbar zu verfolgen – was mir persönlich wenig sinnvoll vorkam, da es im Tumult erfahrungsgemäß viele Meldungen gibt, die sich nur etwas später als falsch herausstellen.
Aber mir ist auch klar geworden, dass viele Menschen schlicht große Angst haben, vielleicht sogar buchstäblich verzweifelte Angst, die ich als 1971 Geborener und im Kalten Krieg Aufgewachsener anscheinend mit einer Mischung aus Abgeklärtheit und vielleicht auch Abgestumpftheit so nicht nachvollziehen kann.
Ein Abriss meiner frühen Gedichte zeigt in sehr ernüchternder Weise, dass die Konflikte heute im Wesentlichen noch die sind von damals, nur haben sie sich in und auf andere Länder verlagert. Was sich indes womöglich gravierend geändert hat, sind die Antworten auf die Konflikte.
Immer mindestens eine Hang zur Übersteigerung und Hysterie hatten auch die Friedensbewegten und Umweltaktivisten meiner Jugend und doch scheint es mir wenigstens rückblickend so, als hätten die riesigen Demonstrationen seinerzeit ihren Sinn darin gehabt, Ängste abzubauen und nicht, sie noch zu potenzieren. Jedenfalls waren nicht Ausländer, Religionsgruppen, psychisch Erkrankte und/oder Flüchtlinge die Sündenböcke und jedenfalls war Abschottung keine Option in Zeiten von real existierenden Mauern, Selbstschussanlagen und verminten Grenzen. Auch autoritäre Regime hatten im Gegensatz zu heute keine Attraktivität.
In diesem Sinne sind hier einmal drei Gedichte, die im Lichte heutiger Ereignisse womöglich sehr aktuell wirken, tatsächlich aber aus den Achtzigerjahren stammen.
Die Führer
Als sich die Wolken
vom Schlachtfeld
verzogen hatten
da
kletterten sie,
die Führer, aus
ihren sicheren Bunkern
und sahen, dass
niemand überlebt hatte
Alsbald
hallten ihre Stimmen
über die Ruinen:
»Ist hier noch jemand,
dem man die Schuld
geben
kann?«
Voyeure
Sie sehen, dass er auf ihr sitzt
dass er Macht hat, dass er
sie zwingt zu sagen
sie liebe ihn
Und sie stellen den Fernseher lauter
damit sie hören, wie verzweifelt sie ist
Sie sehen ihre blutigen Lippen
sehen, wie er sie küsst
Sie glauben, ihre Angst zu spüren
durch das Flimmern des Bildschirms hindurch
Sie sehen das Heben und Senken ihrer Brust
doch sie sehen noch nicht genug
Alles noch nicht realistisch genug
Sie sehen, wie er sie schlägt
Sie hören, wie sie schreit
Doch er vergewaltigt sie nicht
Er bringt sie sofort um
viel zu schnell
Scheiße
Rumänische Weihnacht
Es ist Weihnachten
ich denke an Südafrika
wo sie die Bäume mit Ketten schmücken
an denen keine Lichter brennen
Es ist Weihnachten
ich denke an Rumänien
wo jetzt christliche Weihnachtslieder
wieder im Radio gespielt werden dürfen
Es ist Weihnachten
ich denke an Rumänien
an den Mann mit der blutverschmierten Hand
den ich im Fernsehen sah
Es ist Weihnachten
ich denke an tausend Tonnen Geschenkpapier
und an tausend Tonnen totes Fleisch
in Rumänien
Es ist Weihnachten
ich denke an Polen
wo sie nichts zu essen haben
und auf das warten, was wir übriglassen
Es ist Weihnachten
ich denke an Panama
an 1500 Tote (Tendenz steigend)
und möglichst nicht daran
wofür sie sterben mussten
Es ist Weihnachten
ich denke an unsere Straßen
in denen Weihnachtsbäume stehen (öffentliche)
von denen die Penner vertrieben werden
Es ist Weihnachten