Zug um Zug
Ich sitze in der Regionalbahn und bummele darin den Rhein entlang.
Rechts von mir sitzt eine Gruppe Koblenzer. Die unnerhalt sisch laut. Es geht um die BuGa und die Seilbahn und um Walter Sedlmayr und Rex Gildo. Ich warte darauf, dass einer sagt: »Ich nehme ‚Trinkende, heimlich schwule Prominente, die eines gewaltsamen Todes gestorben sind‘ für einhundert!«
Zwei der Herren bieten mir ihre Hilfe beim Verstauen meines Koffers an und wuchten ihn flugs hoch in die Gepäckablage.
Mir gegenüber sitzt ein junger Mann, der einer der Altintop-Brüder sein könnte. Die neuerdings in jeder Hinsicht scharfen Beobachter in diesem Land würden vermutlich sagen, er sei »nordafrikanischen« Aussehens und wären dann ganz stolz darauf, das Kind beim Namen genannt zu haben.
Irgendwann überlege ich, ob ich den jungen Mann fragen soll, ob er aus Syrien kommt. Aber was dann? – Er würde Ja sagen oder Nein und ich würde lächeln und nicken und dann würden wir wieder schweigen.
Hinter mir steigt jemand ein, dessen Herkunft unstrittig ist, weil er sie nämlich mit dröhnender Stimme gleich all seinen brothers in refuge verkündet. »You from Syria? I’m from Ghana!«
Nachdem das geklärt ist, erstirbt das angetanzte Gespräch gleich wieder. Offenbar haben die Syrer, wo auch immer im Zug sie sich befinden, kein sonderlich großes Interesse an neu entdeckter Verwandtschaft aus Afrika.
Auch der junge Mann mir gegenüber bleibt sitzen und macht sich nicht etwa gleich auf die Suche nach Anschluss an etwaige Landsleute. Oft telefoniert er. Dabei entspannt er sich bisweilen und lächelt. Aber ich nehme an, größtenteils sollen die Gespräche gegen Isolation und Langeweile helfen. Schon auf der Hinfahrt im ICE ist mir aufgefallen, wie viele Handygespräche eigentlich nur geführt werden, um Zeit totzuschlagen. Ich hätte persönliche Daten abgreifen können ohne Ende. Von einer sanftstimmigen, pädagogisch achtsam sprechenden Frau wusste ich nach nur wenigen Minuten Zahl und Namen ihrer Kinder, konnte deren Alter abschätzen und hätte mit hinreichender Wahrscheinlichkeit sagen können, welche Art Schule sie besuchen.
Der junge Mann mir gegenüber ist nervös. Er wippt mit den Beinen. Immer wieder fragt er mich: »Ingelheim?«
Ich versuche ihm begreiflich zu machen, dass es bis Ingelheim noch eine ganze Weile hin ist und ich ihm rechtzeitig Bescheid geben werde. Es wird klar, dass er mich nicht versteht. Um ihn zu beruhigen, weise ich mehrfach auf die leuchtende Anzeige mit der Laufschrift hin. Aber er kann die Schrift offensichtlich nicht lesen. Ich frage mich, könnte ich einen in arabischer Schrift geschriebenen Ortsnamen inmitten anderer in arabischer Schrift geschriebenen Ortsnamen identifizieren? – Vermutlich nicht.
In Koblenz wird es hektisch, weil die Koblenzer Gruppe aufspringt und die Durchsage im Wagen übertönt. Ich höre nur was von: »Zug endet hier.« Eigentlich weiß ich, dass ich Aufenthalt habe und der Zug danach weiterfährt bis Mainz. Aber trotzdem steige ich aus, ebenso von der Verwirrung angesteckt wie der junge Mann, der aussieht wie einer der Altintop-Brüder.
Auf dem Bahnsteig spricht er einen jungen Reisenden an: »Ingelheim?«
Das anschließende Gespräch bleibt ohne klärendes Ergebnis, führt aber immerhin dazu, dass ich mich besinne. Letztlich steigen wir beide wieder ein und gehen zu unseren Plätzen zurück. Als wir sehen, dass ich um ein Haar meine Tasche vergessen hätte (in der sich im Gegensatz zum Koffer alles Wichtige befindet), lachen wir.
Der Zug fährt weiter und unsere Interaktion besteht weiterhin darin, dass er mich in unregelmäßigen Abständen fragt: »Ingelheim?« und ich ihm wahlweise auf Deutsch, Englisch oder Französisch zu antworten versuche. Gebärdensprache bringt die Lösung. Mit Gesten macht er mir klar, dass er wissen will, wie viele Stationen es noch sind bis »Ingelheim«.
Ich weiß nur so viel, dass Ingelheim noch vor Mainz liegt und ich dem jungen Mann also rechtzeitig Bescheid geben kann. Nur erklären kann ich ihm das nicht. Ich nehme mir vor, bei nächster Gelegenheit ein paar Wörter Arabisch zu lernen. Außer den beim Unifußball aufgeschnappten Kommandos ist das einzige arabische Wort, das ich kenne, das für »Nein«.
Als Bacharach als nächster Halt angekündigt wird, denke ich: »Bacharach klingt eigentlich voll arabisch!«, aber für den jungen Mann mir gegenüber klingt offensichtlich eins wie’s andere. Ich denke zurück an meine ersten Straßenbahnfahrten in Leipzig. Wenn »proschennarree Augustusplatz« durchgesagt wurde, hielt ich das für Russisch (Sorbisch? Sächsisch?), bis mir irgendwann aufging, dass das Französisch sein soll.
Der junge Mann mir gegenüber trägt eine auffällige Armbanduhr. Unsere besorgten Montagsspaziergänger würden sich vielleicht darüber aufregen, überlege ich mir, dabei zeugt die Uhr eher von schlechtem Geschmack als von hohem Preis.
Einmal sagt der junge Mann etwas anderes als »Ingelheim?«, nämlich »Double-u, C, U«. Ich weiß nicht, ob er nach dem Weg zur Toilette fragt oder möchte, dass ich ein Auge auf seine Sachen habe, muss aber schmunzeln, weil er »WC« und »see you« vermischt. Danach ertappe ich mich dabei, dass ich darauf achte, wie lange er weg bleibt. Nicht lange genug, um eine Bombe auf dem Klo zu platzieren – und auch unter seinem roten Trainingsanzug mit dem Emblem eines großen deutschen Sportartikelherstellers schauen nirgendwo die Drähte eines Sprengstoffgürtels hervor. Das kurzzeitig durch meinen Kopf hallende Echo europäischer Hysterie verstummt.
Stattdessen denke ich bei einem besonders lauten und rappelnden Einstieg: »Lass das jetzt bitte keine Nazis sein!«
Aber es gibt keinen Stress. Von zwei Mädchen im Teenager-Alter kann ich schließlich in Erfahrung bringen, dass Ingelheim die nächste Station ist, so dass ich auf »Ingelheim?« mit Fragezeichen bekräftigend antworten kann: »Ingelheim« mit Punkt.
Der junge Mann im roten Trainingsanzug macht sich bereit auszusteigen. Dann gestikuliert er, deutet auf meinen Koffer. Ich schüttele den Kopf. Der Koffer kann bleiben, wo er ist; ich steige noch nicht aus. Und sollte sich in Mainz keine Hilfe finden, wird die Schwerkraft das ihre tun. Ich kenne das schon.
Der junge Mann sagt »thank you!« und seine Aussprache macht endgültig klar, dass er außer ein paar Vokabelbrocken kein Englisch kann. Wir verabschieden uns, irgendwie. Dann steigt er aus, endlich in Ingelheim angekommen.
Ich fahre weiter, rechts von mir ein halber Kilometer graues Wasser unter nicht ganz so grauem Himmel, am jenseitigen Ufer die wie aus Gottes lockerem Handgelenk ins hügelige Hinterland gestreuten Häuser rheinischer Ortschaften. Links ziehen ausgestorbene Kleingartenparzellen vorbei. Sie sind winterlich verlottert. Die Szenerie spottet geradezu der Pracht des Rheintals im Sommer.
Aber dann frage ich mich, ob der junge Mann im roten Trainingsanzug die Kleingärten ebenfalls gesehen hat und, falls ja, ob er gesehen hat, was ich sehe. Vielleicht waren die zugestellten, verwahrlosten Grundstück für ihn ja elysische Felder ohne Bombentrichter.