Einer der zahlreichen Aspekte, die ich an der Harry-Potter-Reihe bewundere, ist das aus meiner Sicht geradezu meisterliche Plotten von J. K. Rowling. Im ersten Band Dinge anzulegen, die im letzten Band noch einmal zum Tragen kommen (noch dazu unter völlig anderen Gesichtspunkten) – das zeugt von einer Weitsicht, Gedächtnisleistung und Geduld, die ich nur bewundern kann. Aber nicht alles, was geplottet scheint, muss es auch notwendigerweise sein.
Möglicherweise ist Plotten bei einer Geschichte wie Harry Potter insofern vergleichsweise »einfach«, als es eine feste zeitliche Struktur in Form der Schuljahre gibt. Und möglicherweise hat J. K. Rowling in typischer Kriminalschriftstellerinnenmanier »von hinten nach vorn« gedacht, also vom finalen Rätsel um die »Heiligtümer des Todes« rückwärts zum Beginn ihrer Geschichte. So oder so: Es ist eine Meisterleistung, für die ich nicht die Disziplin aufbringen würde. Konzepte und Zeitstrahlen etwa habe ich immer als einengend empfunden.
Bin ich also ein sogenannter Plotter oder bin ich keiner? Die Antwort ist wie so oft ein ganz klares: Jein. Denn natürlich schreibe auch ich nicht einfach so drauflos. Jede Szene war vorher mehr oder minder lange in meinem Kopf. Insofern kenne ich auch kaum Schreibblockaden in dem Sinne, dass ich nicht wüsste, was ich schreiben soll. Schreibblockade bedeutet für mich: Ich weiß, was ich schreiben will – nur nicht, wie ich dort hinkomme. Die Szenen aus meinem Kopf sind wie Perlen auf einer Schnur oder die Trittsteine eines Wegs. Die große und oft schwierigste Frage ist: Wie gelange ich von Trittstein zu Trittstein?
Gelegentlich behelfe ich mir damit, dass ich zumindest grob das aufschreibe, was mehr oder minder fix ist – einen Dialog, einen Szeneneinstieg, eine Beschreibung von Ort oder Atmosphäre. Im schlechtesten Fall habe ich mit dieser Methode zwar nur mein kreatives Pulver verschossen und weiß immer noch nicht, wie ich von A nach B komme. Im Idealfall jedoch ist der jeweilige »Trittstein« damit nicht erledigt, aber zumindest gesetzt, sodass ich mich einstweilen anderen Dingen zuwenden kann. Harry Potters Denkarium lässt grüßen.
Dass ich die Perlen, Szenen, Trittsteine [gewünschtes Synonym einfügen] habe, spricht ebenfalls dafür, dass ich sehr wohl ein Plotter bin, auch wenn ich mich in meiner Selbstkritik und meinem Perfektionismus nicht so sehe. So weiß ich zum Beispiel schon jetzt, wie Die Zeit der Großen Wanderschaft ausgehen wird, wer noch da sein wird und wer nicht, wer am Ende wo landet und wer was wird. Auch lege ich heute teilweise schon zu Beginn eines Bands die Kapitel fest und schreibe in Stichpunkten auf, was darin geschehen wird. Dies alles steht aber immer unter Änderungsvorbehalt.
Auf eine Möglichkeit, Dinge geplottet erscheinen zu lassen, die es de facto jedoch gar nicht sind, bin ich irgendwann eher zufällig gestoßen, als ich für eine Szene eine Figur benötigte, aber schlicht keine rechte Lust hatte, mir einen weiteren neuen Namen auszudenken.
Zu diesem Zeitpunkt hatte die Liste der Namen in Die Zeit der Großen Wanderschaft schon mehrere hundert Einträge. Also sagte ich mir, anstatt die Figurenliste nur um des Anwachsens willen weiter anwachsen zu lassen (zumal für einen Charakter mit unbestimmter Bedeutung), könnte ich doch auch einen der vielen Namen nehmen, die schon in der Datenbank sind.
Meine Wahl fiel auf Dea. »Dea« ist dabei kein sonderlich origineller Name und war ursprünglich vielleicht sogar mal schlicht ein Platzhalter. Normalerweise mag ich solche simplen, auf a endenden Frauennamen nämlich nicht. Gut möglich also, dass ich vorhatte, ihn irgendwann mal zu ersetzen.
Grob gesagt ist Dea eine Vertriebene und eine Art Freiheitskämpferin wider willen. Ihren ersten Auftritt hat sie als Geflüchtete, der man die Ohrringe herausgerissen hat. Sie ist also buchstäblich ein »Schlitzohr« und um mehr als die Herkunft dieses Begriffs ist es mir nicht gegangen, als ich Dea – quasi als Statistin – in die Geschichte eingeführt habe.
Zwei Bände später war genau diese Undifferenziertheit der Grund, auf Dea zurückzugreifen. Eine neue Figur erschaffen wollte ich nicht und einer der schon etablierten Figuren noch mehr zustoßen lassen auch nicht. Also entschied ich mich für Dea, die Frau mit den markanten vernarbten Ohrläppchen.
Auf diese Weise bekam Dea die Gelegenheit, ihre Geschichte zu erzählen: Wie sie hineingeboren wurde in Diskriminierung und Unterdrückung, ohne dies je wirklich zu hinterfragen. Wie sie sich naiv in einen Unterdrücker verliebte und von diesem prompt geschmäht wurde. Wie ihre Lebensumstände nach und nach immer unerträglicher wurden. Es wird deutlich, wie verbittert Dea ist und warum sie nicht an Frieden und Aussöhnung glaubt.
Das wiederum unterscheidet sie von der Bogenschützin Imnain, die an die Kraft der Argumente glaubt. Beide Frauen hadern. Imnain klammert sich an Logik und Vernunft, um einen Ausweg aus Gewalt und Feindseligkeit zu finden; Dea hingegen ist nach ihren Erlebnissen vollkommen ernüchtert.
Wäre ich an dem Tag, an dem ich diese Szene geschrieben habe, nur ein bisschen anders drauf gewesen oder hätte irgendein Namensgenerator einen mir irgendwie wohlklingenden, passenden Namen ausgespuckt – dann wäre diese Geschichte so oder so ähnlich nicht die von Dea, sondern vielleicht die von einer anderen Frau. (Oder die eines Mannes, eines Jungen oder Mädchens. Denn das Geschlecht, so viel ist auch klar, spielt in diesem Fall eine allenfalls untergeordnete Rolle.)
So aber liegen zwischen Deas erstem Auftritt und ihrem zweiten über tausend Seiten und es scheint, als hätte ich dies alles von langer Hand geplottet. Tatsächlich jedoch ist viel daran dem Zufall oder der Laune geschuldet.
Bei Licht besehen hat Dea auszuarbeiten übrigens auch nicht weniger Zeit gekostet als die Schaffung einer neuen Figur. Gefühlt war es aber viel einfacher, auf eine vorhandene Figur aufzusetzen, von der ich bereits – oder immer noch – ein Bild im Kopf hatte. Und nun streift Dea unverhofft weiter durch die Geschichte. Ich habe noch etwas mit ihr vor. Aber mehr wird nicht verraten.