Kritik an der Kritik: Eine andere Meinung zum Interview von Monica Lierhaus, Teil 2

Wer singt, wird bestraft

Das erste mal von Monica Lierhaus‘ »emotionalem Interview« im Redaktionsnetzwerk Deutschland gelesen habe ich hier. Dabei ist mir gleich dieses irgendwie manipulative, schlechte Foto aufgefallen, so gar nicht vorteilhaft und nicht mal ein bisschen aufgehübscht. Bleich sieht Lierhaus darauf aus, das Gesicht glänzt, Falten sind zu erkennen.

Wie anders dagegen das dpa-Foto, mit dem sowohl das Pagel-Steidl/Seifert-Interview als auch der Blog Stufenlos von Christiane Link auf ZEIT Online bebildert sind. Darauf sieht Lierhaus entspannt aus, lächelt locker, hat einen gesunden Teint. Es sind zwei Bilder, die sehr deutlich ausdrücken, welche Aussage genehm ist und welche pfui.

Die eigentliche Aussage, wonach Lierhaus sich nicht noch einmal der lebensrettenden Operation unterziehen würde, habe ich zunächst als inzwischen leider branchenübliche Zu- und Überspitzung gewertet. Als ich das Interview später gelesen und festgestellt habe, dass sie die Aussage offensichtlich tatsächlich so getätigt hat, hat mich das dennoch nicht aufgewühlt. Mit viel Nachdenken finde ich Lierhaus‘ Statement mutig. Aber dass es mich emotional erreichen, dass es mich betroffen machen würde – nein. Ich sehe Monica Lierhaus vielleicht als »meinesgleichen«, weil sie Journalistin und Fußballfachfrau ist. Ich sehe sie nicht als »meinesgleichen«, weil wir beide einen Hirnschaden haben.

Sicher, es hätte alles so schön, so märchenhaft sein können. Ein zu Tränen gerührter Günter Netzer, ein Heiratsantrag vor laufenden Kameras und Millionenpublikum auf der Bühne und Lierhaus auf alle Ewigkeit in den Fängen von Bunte und Gala. Das wäre wie gemalt gewesen für unsere Alles-wird-gut-Welt mit dem Soundtrack von Helene Fischer, in der es kein Leid und keinen Schmerz gibt.

Ehrlich, ich wünschte mir, die Welt wäre so. Ich wünschte auch, Michael Schumacher würde vollständig von den Folgen seines Skiunfalls genesen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist leider nicht unbedingt groß. Das hört nicht jeder gern. Aber wer wirklich Fan ist und vor allem, wer wirklich mitfühlt, der will keine überzuckerten Illusionen sondern sieht den Tatsachen ins Auge, die da heißen: So schön und so lebenswert das Leben auch ist, für Menschen mit Behinderungen ist es mit bleibenden Einschränkungen verbunden, mit Anstrengungen, manchmal mit Schmerzen und überhaupt mit zig verschiedenen, größeren und kleineren Dingen, die je nach Tagesform mal mehr und mal weniger zermürbend sind.

Das macht bisweilen dünnhäutig und, ja, vielleicht sollte man in diesen Phasen nicht unbedingt Interviews geben, weil Emotionalität oft schlagzeilenträchtig ausgenutzt wird. Aber mich stört weit mehr das, was sich andere Menschen mit und ohne Behinderungen in der Reaktion auf Lierhaus‘ Interview an Urteilen angemaßt haben.

Ziemlich weit vorn im Ranking ist dabei die Bigotterie der ZEIT. Als im vergangenen Jahr der Journalist und ehemalige MDR-Intendant Udo Reiter Suizid verübte, widmete ihm die Wochenzeitung nämlich einen sehr persönlichen Nachruf, in dem der gewiss nicht unumstrittene Reiter als »Cowboy«, als Draufgänger im Rollstuhl, als Macher und sein Freitod als Akt der Selbstbestimmung dargestellt wurde.

Wenn also ein Mann und Machtmensch beschließt, 70-jährig aus dem Leben zu scheiden, ist das irgendwas zwischen legitim und heroisch. Ein Mann, der sich sehr praktisch in Rockermanier dafür entscheidet, dass Verbrennen besser ist als Verblassen, wird respektiert und bewundert. Sagt hingegen eine 45-jährige Frau, dass sie sich rückblickend (und somit nur theoretisch) ganz selbstbestimmt gegen eine Hirnoperation entscheiden würde, räumt die selbe ZEIT Platz in einem Blog ihrer Online-Ausgabe zum fröhlichen Bashing frei.

An diesem Blog, wie auch am erwähnten Interview mit Jutta Pagel-Steidl und Ilja Seifert, ist letztlich so viel einfach nur Mist und an den Haaren herbei gezogen, dass ich es gar nicht fassen kann. Es fängt damit an, dass Link ihren Beitrag damit einleitet, binnen weniger als einer Stunde nach Veröffentlichung des Lierhaus-Interviews »drei Anrufe von Freunden und Bekannten« bekommen zu haben – als wären drei Anrufer, die als Freunde und Bekannte mutmaßlich die eigene Meinung teilen und auf der selben Wellenlänge funken, in irgend einer Form repräsentativ.

Weiter schreibt Link: »Wenn sich prominente behinderte Menschen in dieser Weise äußern, geht das keinesfalls folgenlos an anderen behinderten Menschen vorüber.«

Es ist erstaunlich, welche Macht Link und andere Kritiker Monica Lierhaus zuschreiben. Was Angela Merkel, Barack Obama, der Papst und der Dalai Lama nicht schaffen – mit ihren Meinungen Einhelligkeit auch nur in einer bestimmten Gruppe von Menschen zu schaffen nämlich –, Monica Lierhaus vollbringt es angeblich.

Nicht. Denn ich bin zum Beispiel ein solcher »Mensch mit Behinderung« und an mir gehen die Äußerungen von Frau Lierhaus völlig folgenlos vorüber. Was mich viel mehr stört, ist, dass Frau Link sich zum Sprachrohr aller Menschen mit Behinderung (und damit ungefragt auch zu meinem) aufschwingt. Wer sich (vermeintlich) dafür einsetzt, dass Menschen mit Behinderungen für voll genommen werden, der sollte ihnen vielleicht auch zutrauen, dass sie sich nicht blindlings die Aussagen einer Prominenten zu eigen machen.

Aber klar, je absoluter, je dramatischer die Folgen einer kritisierten Äußerung dargestellt werden, desto mehr Gewicht kommt der eigenen, heroischen Gegenrede zu, desto nötiger und zwingender erscheint sie. Es handelt sich nicht schlicht um eine andere, konträre Meinung. Nein, selbstverständlich ist die Kritik mehr als das, selbstverständlich ist sie eine Notwendigkeit.

Hilfreich ist in einem solchen Fall natürlich auch, geflissentlich alles unter den Tisch fallen zu lassen, was nicht ins Bild der »jammernden«, ihre »negative Einstellung hinausposaunenden« Kritisierten passt. Dass sie laut ihrer im Interview ebenfalls zu Wort kommenden Mutter während der Reha vollen Einsatz gezeigt hat beispielsweise, oder dass sie die ärztlichen Prognosen übertroffen hat.

Auch Jutta Pagel-Steidl und Ilja Seifert legen munter zweierlei Maß an. Zwei Personen, die ihre öffentlichen Meinungsäußerungen dadurch legitimieren, dass sie Vertreter von Behindertenverbänden sind, werfen Monica Lierhaus (und Samuel Koch) vor, sich »zu wichtig zu nehmen« und in ihrem Leben und »für Menschen mit Behinderung noch nichts gemacht« zu haben, »außer ihr Schicksal zu vermarkten«.

Weiter ergeht sich Seifert in Ferndiagnosen. »(…) [N]ach fünf Jahren sollte diese Sichtweise nicht mehr dominieren«, erklärt er und hat auch gleich noch einen guten Rat für Monica Lierhaus in petto: »Wenn sie nicht vor der Kamera stehen kann, dann soll sie eben schreiben.«

Wohlgemerkt: Seifert sagt nicht, sie »könnte«. Er schränkt es nicht mit einem »vielleicht« ein. Seifert sagt, sie »soll«. Er macht keinen Vorschlag, er macht Vorschriften.

Für mich stellt sich die Frage, ob sich ein Mensch mit Behinderung zwangsläufig dadurch hervortun muss, dass er etwas für andere Menschen mit Behinderung tut. Wolfgang Schäuble tut es nicht (öffentlich), wie auch Seifert einräumt, wird aber von ihm nichtsdestoweniger als leuchtendes Beispiel für jemanden angeführt, der »nicht als Behinderter auftritt«.

Das ist schlicht falsch. Schäuble hat seine Behinderung immer wieder thematisiert und zu instrumentalisieren versucht (nachzulesen beispielsweise hier). So hat Schäuble in einem Interview mit dem Stern Anfang 1997 provokativ-machistisch von sich als »Krüppel« mit Ambitionen aufs Kanzleramt gesprochen und sich medienwirksam im ballonseidenen Trainingsanzug mit Handfahrrad ablichten lassen. Das ist lange her, wissen kann man es aber durchaus trotzdem noch.

Überhaupt: Wenn schon fleißig Herum- und Hineininterpretieren in Persönlichkeiten, warum sich dann nicht auch fragen, ob Schäubles Arbeitswut, seine kühle, ostentativ emotionslose Art und seine ganze zur Schau getragene Harter-Mann-Attitüde nicht auch auf ein Problem schließen lassen, das er mit seiner Behinderung hat?

In den Kritiken an Monica Lierhaus ist immer wieder von »Botschaften« die Rede, die von ihrem Statement angeblich ausgehen. Für mich hat Lierhaus aber lediglich eine Aussage für sich selbst getroffen. Im Gegensatz zu ihren Kritikern tätigt sie nirgendwo eine Äußerung für oder über andere Behinderte. Wer sich den Schuh dennoch anzieht, tut dies meiner Meinung nach aufgrund von Unterstellungen und Interpretationen – und mutmaßlich, weil er es einfach will. Denn wie heißt es doch so schön: Ich bin verantwortlich dafür, was ich sage, nicht dafür, was du daraus machst.

Die von den Kritikern ausgehende Botschaft ist für mich die schlimmere, denn sie besagt: Der Mensch an sich hat zu funktionieren. Er hat den schönen Schein zu wahren oder zu schweigen. Im Zweifelsfall hat er anscheinend sogar zu lügen (Seifert: »Dass sie ehrlich war, spielt keine Rolle.«). Strukturell erinnert mich das an so unschöne Dinge wie die Mafia oder Sekten. Es hat alles hübsch in der Familie zu bleiben. Wer trotzdem gegen den Ehrenkodex verstößt und singt, wird bestraft.

Ich habe mal eine Interviewreihe mit den behinderten Schülern an meinem ehemaligen Gymnasium gemacht. Ein Begriff, den dabei unabhängig von einander beinahe alle gebraucht haben (und ohne dass ich der Stichwortgeber hierfür gewesen wäre), war »Druck«. Gemeint war die Beweislast, von Kindesbeinen an immer wieder mit herausragenden Leistungen zeigen zu müssen, dass man nicht weniger klug ist und, mehr noch, sich seine guten Noten auch wirklich verdient hat.

Die Lierhaus-Kritiker, die doch eigentlich wollen, dass der Mensch gesehen wird und nicht die Behinderung, erreichen just das Gegenteil. Sie hängen Lierhaus ein Mäntelchen um, das zu einer Uniform gehört. Sie zwangskollektivieren damit eine Person. Ihre Botschaft lautet: Du bist nicht in erster Linie Mensch, du bist zuvorderst Repräsentantin einer Gruppe und als solche musst du immer stark sein, darfst nie die Beherrschung verlieren, nie aus der Rolle fallen.

Ich mag mich irren, aber ich denke mal, das ist der Druck, den die von mir interviewten Schüler damals gemeint haben.

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