Im Brotberuf war mein Vater Raumausstattermeister. Im Alter von 17 Jahren musste er vorzeitig das Geschäft von meinem Opa übernehmen, der einen schweren Autounfall gehabt hatte. Ob Vattern je andere berufliche Pläne für sich hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls hat er seinen Beruf, wie eigentlich alles in seinem Leben, mit Leidenschaft ausgeübt.
Aber eine Leidenschaft war Vattern nie genug. Und so war er denn im Laufe seines Lebens auch noch Öko-Gärtner und Öko-Winzer, Tischtennisspieler, Weltenbummler, Musiker, Bergsteiger, Leseratte und Cineast. Sein Bestreben, sich neues Wissen anzueignen, konnte manische Züge annehmen. Manchmal gab er mit seinem Wissen auch an, und/oder stellte uns Kinder damit auf die Probe. Aber im Gegensatz zu vielen anderen Menschen heutzutage hätte es ihn nie in die Öffentlichkeit des Internets gezogen, um dort mit messianischem Eifer seine Erkenntnisse unters Volk zu bringen.
Es erstaunt fast, dass Vattern bei all seinen Leidenschaften auch noch Zeit hatte, ein liebevoller Vater, Clan- und Familienmensch zu sein. Aber Tatsache ist: Er war auch das. Von meiner Mutter weiß ich etwa, dass er, als ich klein war, tagsüber manchmal einfach für ein paar Minuten nach Hause gekommen ist, um sich an mein Kinderbett zu setzen.
Vattern war es, der mir Huckleberry Finn vorgelesen hat oder Rikki Tikki Tavi (und, Leute: Scheiß auf Disney – lest das Dschungelbuch!). Vattern war da, war präsent, nahm Anteil, stellte Fragen. »Schreibst du noch?« war eine davon, die bei jedem Treffen aufkam. Dabei kann ich natürlich ebenso wenig mit dem Schreiben aufhören, wie er mit dem Malen hätte aufhören können.
Denn Malerei war die Leidenschaft der Leidenschaften meines Vaters. Wir hatten zu Hause buchstäblich Wände zu wenig für all seine Werke. Haus und Garten waren in einem ständigen Fluss, weil immer neue Bilder, Büsten und Skulpturen kamen und alte gingen (oder wieder auftauchten). Keine Fläche und kein Material war vor Vattern sicher. Lampen wurden bemalt, Draht verbogen, Ton geformt, Holz geschnitzt. An Postkarten aus dem Urlaub war in späteren Jahren weder das Motiv auf der Vorderseite interessant, noch das, was er mit seiner krakeligen Schrift an Grüßen auf die Rückseite geschrieben hatte. Es ging in erster Linie um die Frage, welche Karikatur von sich und seinen Enkeln er gezeichnet haben würde.
Vatterns Lieblingsmotiv war nämlich die Familie. Die obligatorischen Selbstportraits von ihm gibt es natürlich in großer Zahl, dazu viele Bilder und Drucke von der Heimat, vom Dorf, vom Rhein, von der Eifel. Aber nichts kehrt so häufig wieder, wie die Familie – von Großvater und Großmutter bis hin zu seinen Enkeln. Ich selbst erinnere mich daran, als Kind Modell gesessen zu haben. Ein Foto von meiner Mutter in Amsterdam gab es als Gemälde in kubistischer Ausführung ebenso wie als Bild aus Stoff. Überhaupt dürfte meine Mutter über die Jahre (mit) das häufigste Motiv gewesen sein, das Vattern gemalt hat.
Vielleicht war Papa also so offensichtlich, so selbstverständlich Maler, dass ich selbst mich mit ihm immer mehr über die Musik und über unser beider Instrument, den Bass, verbunden gefühlt habe. Neu ist für mich allerdings die Selbsterkenntnis, dass ich auch den Geschichtenerzähler von ihm habe.
Dabei konnte Vattern gar nichts damit anfangen, dass ich Fantasy schreibe. Er mochte vor allem meine Gedichte und fand wohl, ich hätte mehr drauf, und das hätte vermutlich in gewisser Weise ein Kompliment sein sollen. Sein Standpunkt in Bezug auf Fantasy blieb jedenfalls leider unverrückbar, weswegen die Frage: »Schreibst du noch?« irgendwann eher konfliktbehaftet war.
Der Witz freilich ist, dass ausgerechnet Vattern – wenigstens unter bestimmten Voraussetzungen – selbst ein sehr blumiger Erzähler sein konnte. Vattern war vielleicht kein Baron Münchhausen, aber er war definitiv in mancherlei Hinsicht ein Karl May. Als meine Schwester auf ihrer ersten Flugreise Angst vor einem Absturz hatte, erzählte er ihr beispielsweise kurzerhand, die Kotztüte sei ein Minifallschirm und machte ihr vor, wie sie diesen über sich zu halten und damit zu navigieren hätte.
Vatterns Anekdoten vom Schulhof wiederum warfen manches bezeichnende Schlaglicht auf eine raue Nachkriegszeit unter wenig einfühlsamen Soldatenkindern. Gleichzeitig wurde der Dorfwald seiner Kindheit in Vatterns Geschichten zum Dschungel und die Wildschweine und Mufflons darin zu fürchterlichen Ungeheuern. Und seine Freunde erzählten von amerikanischen Besatzungssoldaten, die es überhaupt nicht witzig fanden, wenn man ihnen ihre Apfelsinen klaute. Sie packten einen an den Beinen und schüttelten alles Diebesgut aus einem heraus, deuteten dann mit dem Messerrücken eine Kastration an und ließen einen anschließend laufen.
Mannigfaltig sind die Storys (und die Variationen selbiger) von wüsten Schlägereien in Kneipen und auf der Kirmes, wo Fäuste angeblich oder tatsächlich ebenso flogen wie Stühle und Bierkrüge. Vatterns Rolle darin wandelte sich mit den Jahren von der des munteren Mitmischers hin zu einem, der unter den Tischen in Deckung ging und tunlichst das Weite suchte.
Das offene Meer in Kroatien war in Vatterns Erzählungen irgendwie immer voller Haie und tückischer Strömungen; ein Absturz mit dem Auto in die Schluchten der Pyrenäen stets nur einen kleinen Lenkfehler entfernt. Selbstverständlich warf er sich trotzdem todesmutig in die Fluten, um übermütig und impulsiv zu einer fernen Landmarke zu schwimmen und sich dabei völlig zu verausgaben. Und auf Berggipfel stieg er auch schon mal spontan in Turnschuhen, wenn zufällig gerade eine passende Wandergruppe des Wegs kam.
Ich selbst habe erlebt, wie Vattern nur mit einer Tauchermaske und einem Picknickmesser ausgerüstet nach einer Muräne suchte, die er beim Tauchen zuvor entdeckt hatte. Vermutlich waren Tauchgang und Muräne gleichermaßen harmlos, aber Vattern wusste seine Geschichten eben immer lebhaft zu erzählen und auszuschmücken.
Legende das Missgeschick, als er den Wasserschlauch zum Reinigen des Wohnmobils gemäß den Anweisungen eines adrett gekleideten und perfekt frisierten italienischen Jünglings mit verspiegelter Sonnenbrille in den Haaren bediente, dabei aber versehentlich auf den Boden zielte statt auf das Auto und den holden Knaben so von oben bis unten mit Schlamm sprenkelte – was dieser mit einem lakonischen »perfetto!« quittierte.
Legende auch die Solos von Vatterns Schlagzeuger, die irgendwie mit jedem neuen Erzählen zehn Minuten länger wurden. Legende der Abend, an dem Vatterns Freund Paul wahlweise mit seinem Schlagzeug durch den Heuboden brach oder aber vom Heuboden fiel, weil sich das Schlagzeug im Verlauf des Auftritts immer weiter Richtung Rand bewegt hatte. Legende die Feiern, bei denen es zu vorgerückter Stunde zum Schwur »We’ll put the band back together!« kam, der dann doch nie erfüllt wurde.
Ein großes Thema für Vattern war auch immer die Auflehnung gegen Autoritäten, Honoratioren und Institutionen. Den Pastor hat er angeblich als junger Bursche zur Unzeit herausgeklingelt und ihm eröffnet, er gedenke in ein paar Tagen zu heiraten – woraufhin der Pastor zwar lamentierte, aber sich fügte. Und auf der Kirmes will Vattern zusammen mit Freunden »Ho! Ho! Ho Chi Minh!« skandiert und so das Establishment in Rage gebracht haben.
Ob all das zu hundert Prozent der Wahrheit entspricht? Oder ist es ausgeschmückt? Übertrieben? Verklärt?
Ich weiß es nicht, und eigentlich ist es auch egal, denn um es einmal mit Giordano Bruno zu sagen: »Wenn es nicht wahr ist, so ist es doch trefflich erfunden.« Und mich hat es zum Geschichtenerzähler gemacht.
2 Antworten
LIEBER MARIO,
WOHL WAHR, WOHL WAHR…..
UND WO BLEIBT DIE DICKE HAVANNA??
UND WO BLEIBT DAS GELIEBTE ELSASS??
WIR WAREN DABEI!!
DU HAST UNS AN VIELES ERINNERT, AN VIEL GEMEINSAMES.
NACH DEM GEMEINSAMEN LESEN HABEN WIR DIE JAHRZEHNTE REVUE PASSIEREN LASSEN.
FRANKREICH
ATLANTIKKÜSTE
CAP FERRET
HIER HABEN WIR UNS GETROFFEN
IHR UND WIR MIT WOHNMOBIL
TOLLE GESCHICHTEN
DU HAST GUT GESCHRIEBEN UND ERZÄHLT
WEITER SO…..
LIEBE GRÜßE FÜR DICH UND FAMILIE
WILMA UND HERIBERT
Sehr schön verfasst 🙂