Omas Worte
»Krieg ist das Schlimmste, was man Menschen antun kann!«
Neben der Lust am Verdrehen und dem reinen Spaß an der Freude, sich Dinge auszudenken und in allen möglichen Details zu ergehen, wurde dieser Satz meiner Großmutter immer mehr zur Triebfeder, je länger ich an Die Zeit der Großen Wanderschaft geschrieben habe.
Ich bin dankenswerterweise nie mit Geschichten vom Krieg und bösen Russen geängstigt und indoktriniert worden. Es gibt einige wenige Episoden, die mir meine Großeltern erzählt haben und die haften geblieben sind. Die vom Soldat mit den vereiterten Zähnen etwa, der wegen des Versuchs der Selbstverstümmelung hätte erschossen werden können, hätte ihn mein Großvater (als Sanitäter) nicht zu einer Behandlung gedrängt. Oder die vom Mann, der vollmundig verkündete, entweder mit dem höchsten Verdienstorden oder mit »kaltem Arsch« aus dem Krieg heimzukehren und dessen Brust auch nach dem 8. Mai 1945 noch ungeschmückt, sein Gesäß gleichwohl warm war.
In meiner Zeit als Journalist erfuhr ich dann von meinem Redaktionsleiter, wer in meiner Heimatstadt nach der Machtergreifung der Nazis »eigenhändig das Kreuz aus der Kirche gerissen« hatte, um nach dem Krieg »als erster im Hürdenlauf über die Bänke zu springen« und sich als Vorzeigekatholik und -demokrat zu geben.
Nichts hat sich mir indes so eingeprägt wie Omas Worte: »Krieg ist das Schlimmste, was man Menschen antun kann.« Er fasste in seiner Inständigkeit alles zusammen, was ich über die Jahre an Unbegreiflichem, Grausamen und Irrsinnigem gehört und gelesen hatte – darunter auch das Kriegstagebuch meines Großvaters väterlicherseits. Es enthielt letztlich so befremdlich euphorische Schilderungen von Kriegshandlungen, dass es mir in gewisser Weise heute noch ein Bedürfnis ist, dem in meinen Erzählungen etwas Realistischeres entgegenzusetzen.
Es ist einer dieser merkwürdigen Zufälle, dass ich beim Lesen des besagten Tagebuchs ebenso 23 Jahre alt war wie mein Großvater beim Verfassen. Und während meine größte Sorge zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben war, die Diplomprüfung an der Uni zu schaffen, hatte mein Großvater als 23-Jähriger mit in Brand geschossenen Schützenpanzern (samt Insassen) zu tun. Von irgendwelcher Verbrämung des Kriegs konnte bei ihm übrigens später in seinem Leben nicht mehr die Rede sein. So wollte mein Großvater beispielsweise nicht, dass seine Söhne Wehrdienst leisten. Im Falle meines Vaters verhinderte die vorzeitig notwendig gewordene Übernahme des elterlichen Betriebs den »Dienst an der Waffe«, im Falle meines Onkels ein Studium in Berlin.
Ein Schlüsselerlebnis war für mich auch der Bericht, den Oma meiner Freundin Jen für deren Arbeit über Trümmerfrauen gegeben hat. Dabei hörte ich Dinge, die mir die Haare zu Berge stehen ließen und die mir endgültig klar machten, wie dünn die Patina unserer Zivilisiertheit ist. Teilweise kannte ich die betroffenen Frauen – und nichts in ihrem Verhalten hätte für mich auf ihre traumatischen Erlebnisse hingedeutet. Es waren freundliche, adrette, höfliche Damen. Es waren Mütter. Sie hatten die ihnen angetane unvorstellbare Gewalt irgendwie beiseite geschoben, ein Land wieder aufgebaut, Berufe ausgeübt, geheiratet, Kinder bekommen.
»Die große Scheiße ist, dass heutzutage Leute über Krieg und Frieden entscheiden, die nie einen Krieg erlebt haben.«
Das hat nicht meine Oma gesagt. Dieser Satz stammt von unserem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt. Und er hat bedauerlicherweise Recht. Ich weiß nicht, ob unsere Politikerinnen und Politiker heute keine Eltern oder Großeltern hatten, die ihnen eine Andeutung dessen vermitteln konnten, was Krieg ist. Ich weiß nicht, ob unsere Politikerinnen und Politiker heute keinen Geschichtsunterricht hatten. Ich weiß nicht, ob unseren Politikerinnen und Politkern heute das Einfühlungs- und Denkvermögen fehlt, das sie vor Kriegen zurückschrecken lassen würde. Aber ich finde, sie schicken Menschen inzwischen wieder mit erschreckender Leichtfertigkeit in den Krieg – Menschen, für die sie eigentlich eine Verantwortung und eine Fürsorgepflicht haben.
Sie werden losgeschickt, um einen Lebensstil zu verbreiten, den wir hierzulande selbst kaum mehr mit Leben füllen. Derweil können Minister in Deutschland mit Begrifflichkeiten punkten. Es wird als Fortschritt betrachtet, von »Krieg« und »Gefallenen« zu sprechen und das Kind beim Namen zu nennen, und irgendwie wirkt es, als liefe manch einem dabei ein martialisch-wohliger Schauer über den Rücken.
Als ich angefangen habe, Die Zeit der Großen Wanderschaft zu schreiben, deutete sich diese Entwicklung bereits an. Ausschlaggebend für mich war jedoch zunächst meine persönliche Situation. Ich hatte ein kleines Patenkind und zum ersten Mal wurde mir hautnah bewusst, dass es eine Generation nach mir geben würde, für die auch ich Verantwortung trug. Später kamen meine beiden Neffen hinzu, bald darauf die ersten Söhne und Töchter von Freunden, Verwandten und Bekannten, die erst mit dem Gedanken an Wehrdienst und später dann mit einer »Karriere« beim Militär liebäugelten. Mit jedem dieser in mein Leben tretenden lieben Menschen sah ich mich mit der Frage konfrontiert, wie ich mir eigentlich die Zukunft für sie vorstellte. Und je öfter ich mir diese Frage stellte, desto öfter und desto eindringlicher riefen sich mir Omas Worte als Teil der Antwort ins Gedächtnis: »Krieg ist das Schlimmste, was man Menschen antun kann!«
Die Gewaltdarstellungen in Die Zeit der Großen Wanderschaft sind genau deshalb auch bisweilen recht drastisch. Zu meiner eigenen Erleichterung stelle ich jedoch immer wieder fest, dass es mir schwer fällt, Brutalität zu beschreiben. Mehrfach habe ich Szenen schon umgeschrieben und »entschärft«, weil ich kein gutes Gefühl dabei hatte, menschliches Leid in aller Ausführlichkeit zu schildern. Dennoch fühle ich eine gewisse Verpflichtung zu einer realistischen (und damit schonungslosen) Darstellung. In einem Krieg trägt man nun mal nicht nur harmlose Schulterwunden davon, die komplikationslos verheilen und von denen nichts zurück bleibt, als eine schmissige Narbe. Und selbst, wer mit dem Leben und körperlich unverletzt davon kommt, hat Dinge erlebt, die für den Rest des Lebens belasten.