Leseprobe Menschen mit Behinderung Erlebnisse Behörden

Was einem als Mensch mit Behinderung so widerfährt …

Mein Sohn ist dankenswerterweise inzwischen so lange anfallsfrei, dass er seinen Führerschein machen konnte. Nun habe ich allerdings festgestellt, dass das offensichtlich nicht für jedermann Grund zur Freude ist. Manche Menschen nehmen es vielmehr zum Anlass, Geschichten von grausigen Unfällen zu verbreiten, die Epileptiker verursacht haben – natürlich gepaart mit der Forderung nach strengeren Regeln für den Erwerb der Fahrerlaubnis.

Ich möchte das zum Anlass nehmen, mit einem Auszug aus meinem Buch Jos Leben (geschrieben zwischen 1996 und 2006) zu veranschaulichen, dass für Menschen mit Behinderung ohnehin schon strengere Regeln gelten. Die beschriebenen Ereignisse sind dabei in ihrer Absurdität nicht einmal andeutungsweise so fiktiv, wie sie Unbedarften vielleicht erscheinen mögen.

»Ania hatte einmal gesagt, Jo habe immerzu nur nach einer neuen Danielle gesucht. Vielleicht hatte sie sogar recht gehabt damit. Vielleicht aber auch nicht. Das war die Position, auf die sich Jo zurückgezogen hatte. Sein Leben war eine Krankengeschichte, und er hatte so viel mit Doktoren, Neurologen und Psychologen zu tun gehabt, dass er es inzwischen anderen überließ zu definieren, was er dachte oder fühlte.

Psychologen waren für Jo jene Leute, denen man sagte, was man dachte und die aus genau diesem Grunde das Gegenteil davon als zutreffend betrachteten. Man sagte »Mir geht’s gut«, und sie stießen einen mit der Nase direkt auf die Probleme. Es war nicht schwer, bei einem Behinderten einen wunden Punkt zu finden. Klar ging es einem dann nicht mehr gut. Der Psychologe behielt recht, und man selbst stand da wie ein Lügner oder zumindest wie einer, der die Realität leugnet.

Als Fünfjähriger: Kinderpsychologe. Spielchenmäßig. Hörtest und sowas. Jo erzählte unbedarft und fröhlich. Seine Eltern hatten ihn vorbereitet. Die Fragen zu seiner Lähmung überraschten Jo nicht. Er war noch ein Kind und dachte sich nichts weiter dabei. Er bekam Wachheit und Intelligenz attestiert. Vor der Einschulung noch so ein Heini, diesmal von der Schulbehörde. Keine Ahnung von nichts, machte nix Halbes und nix Ganzes. Gab Jo nur das altbekannte Gefühl, etwas Besonderes oder – negativ ausgedrückt – »nicht normal« zu sein. Jo dämmerte nämlich so allmählich, dass er offenbar der einzige war, der dieses Prozedere über sich ergehen lassen musste.

Nach der Grundschule kam das Gymnasium, und wieder gab es einen Aufstand. Jo hatte lauter Einsen und Zweien auf seinem Zeugnis und nur eine einzige Drei – die paradoxerweise im Fach Musik. Trotzdem schien die Tatsache, dass ein Behinderter weiterhin eine Regelschule besuchen wollte, offensichtlich einer Rechtfertigung zu bedürfen. Also wieder Psychotests. Eigentlich hätte Jo sich verschaukelt vorkommen müssen, aber diese Akte der Sinnlosigkeit gehörten einfach zu seiner Normalität. Außerdem war er erst zehn Jahre alt. Zu jung, um aufzubegehren. Zu schlau allerdings auch.

Der vorerst letzte Psychologe, mit dem Jo es zu tun gehabt hatte, war der beim TÜV gewesen. Wenn man nämlich als Rollstuhlfahrer seinen Führerschein machen wollte, musste man erst einen Parforceritt überstehen. Kam mit den Alkis, die ihren Lappen versoffen hatten, zum Idiotentest. Musste Buchstaben über verschlungene Linien mit Zahlen verbinden, durfte sich Dias ansehen und danach ankreuzen, was draufgewesen war. Zum krönenden Abschluß war dann dieser Psychologe aufgekreuzt. Rundes Gesicht, Krauskopf, Hornbrille, lascher Händedruck. Gemusterte Krawatte, völlig unpassend dazu gemustertes Sakko. Jos Mutter meinte später, sie habe gleich gewußt, dass das ein Psychologe gewesen sei.

Es gab ein paar Fragen zu Jos persönlichem Hintergrund. Was er denn gedacht habe, als er hörte, dass er einen Test machen müsse. Nichts weiter, gab Jo zu Protokoll. Er könne das verstehen.

Gelogen, aber egal. Er wollte seinen Führerschein machen, keine Grundsatzdiskussionen führen, fraß seinen Ärger in sich hinein. Seine Eltern durften für das Spektakel sechshundert Mark löhnen. Es tat doch immer wieder gut zu wissen, dass man sein Geld für etwas Sinnvolles ausgab.«

Lesefortschritt:

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