Romantagebuch Teil 8: Aus Alt mach Neu

Nie den Schlüssel wegwerfen!

Ich kann kreativen Menschen nur raten, Arbeit nie wegzuwerfen. Ob Skizzen, Notizen, Entwürfe oder Fragmentarisches, ob beim Schreiben, Malen, Dichten oder Komponieren: Musen sind launische Geschöpfe. Ihr Kuss ist meist flüchtig. Dass man einem kreativen Rausch verfällt und eine Arbeit in einem Schwung erledigt, kommt zwar vor, aber weit wahrscheinlicher ist, dass es einen beim Surfen auf der Welle der Inspiration vorzeitig vom Brett haut. Das ist bisweilen sehr frustrierend, aber man sollte dem Drang, alles in die Tonne zu treten, unbedingt widerstehen. Irgendwann kann man diesen ganzen nervigen Kram vielleicht noch brauchen. Also: Nie den Schlüssel wegwerfen!

So findet sich im zweiten Teil von Die Zeit der Großen Wanderschaft beispielsweise das Kapitel Der Sumpf der Zungen. Dieses entstammt jedoch eigentlich einer ganz anderen, acht Jahre älteren Erzählung mit vollkommen anderem Hintergrund, die ich nie beendet habe. Noch deutlicher wird der Einfluss vermeintlich versandeter Ideen allerdings anhand der Geschichte um Theresia und Willem.

Denn während ich die Figur des Willem relativ spontan neu geschaffen habe, geht die der Theresia auf einen Charakter zurück, den ich ursprünglich einmal vor über fünfzehn Jahren erdacht habe. Aus der damaligen Geschichte wurde nichts, weil ich mich in einer elaborierten Schilderung des Hintergrunds der Hauptperson verstrickt habe, bis ich feststeckte. Letztlich hatte ich seinerzeit eine Figur mit einer in allen Details ausgearbeiteten Vergangenheit, aber keine tragende Geschichte für ihre Gegenwart.

Heute komme ich mir fast vor wie ein Prophet, wenn ich bedenke, was ich in der Geschichte damals schon vorweg genommen habe. Lange vor der flächendeckenden Berieselung mit voyeuristischen Castingshows, vor mit Photoshop bis zur Groteske retuschierten Bildern, vor verblödenden Doku-Soaps und Lügenfernsehen in seiner heutigen Form und Fülle habe ich eine Figur erschaffen, die all dem den Stinkefinger zeigt.

So weit ich mich erinnern kann, kam mir die Idee dazu irgendwann im Supermarkt. Beim Gang durch die Regale fiel mir auf einmal auf, dass mich von unzähligen Shampooflaschen, Schachteln und Etiketten Gesichter anlächelten, ebenso von Zeitschriften, Plakaten und Aufstellern. Das setzte sich in der abendlichen Fernsehwerbung fort und ich begann mich zu fragen, wer eigentlich all diese Menschen sind. Wir sehen sie jeden Tag, aber wir nehmen sie nicht wahr. Sie sind die Fototapete unseres Alltags, ein optisches Hintergrundrauschen, das schmückende Beiwerk zu Produkten.

Es gibt einige buchstäblich bekannte Gesichter. Aber wer sind die weiblichen und männlichen Models in den Prospekten vom Möbelhaus, vom Discounter, aus der Autowerbung oder der Schokoladen-, Marmelade- oder Putzmittelreklame? (Oder alternativ dazu: Haben Sie sich mal gefragt, was das wohl für Leute sind, die Jingles einsingen – »für das Behe-hes-te im Ma-ha-hann« zum Beispiel?) Es muss Heerscharen davon geben – Fotomodelle, die wir vermutlich selbst dann nicht erkennen würden, wenn sie unmittelbar unter einem Plakat stünden, auf dem sie selbst zu sehen sind. Vor diesem Hintergrund also entstand die Figur, die heute Theresia heißt.

Auf diese Figur zurückgreifen zu können, erweist sich nun immer wieder als Vorteil. So kann ich heute zum Beispiel auf über fünfzehn Jahre mehr verschärfte mediale Entwicklung, Starrummel und Trivialisierung zurückblicken. Dadurch habe ich mehr, aus dem ich schöpfen und worauf ich anspielen kann. Die neue Geschichte ist bissiger, ironischer und auch humoriger, während sie früher eher düster, anklagend und pessimistisch war. Das brachte zugleich eine gehörige Portion Melodramatik mit sich: Theresia war ein frustriertes Model mit Essstörungen, das in einer Klinik durch den Kontakt zu anderen Menschen in Lebenskrisen zu sich selbst findet – und sich (natürlich) just in den Typen von nebenan verliebt, den es früher keines Blickes gewürdigt hätte. Richtig, mehr Klischee geht fast nicht.

Der Schlüssel zum Neustart lag folgerichtig darin, die vollkommen überfrachtete Ursprungsgeschichte radikal zu verschlanken. Ich habe Theresia gewissermaßen in die Mitte gerückt. Sie ist heute normaler, geerdeter, der Fokus liegt nicht auf ihrer Fallhöhe. Vieles, was ich früher dramatisch überbetont habe, läuft heute nur noch als Randaspekt mit. Ich nehme es mir gelegentlich vor, wenn es passt, und arbeite damit. Es ist jedoch kein die Geschichte korsettierender Ballast mehr.

Die neue Theresia hat zu Beginn der Geschichte bereits viele Entscheidungen für sich getroffen. Auf diese Weichenstellungen hat Willem gar keinen Einfluss. Im Gegenteil, er wundert sich anfangs eher darüber, dass Theresia ihre Modelkarriere an den Nagel gehängt hat. Ihre Begründung indes ist denkbar einfach: Sie hatte die Welt des schönen Scheins satt und fühlte sich intellektuell unterfordert.

Mir gefällt diese Änderung. Im Gegensatz zu früher ist Theresia nämlich nicht durch dramatische Umstände gezwungen, ihr Leben zu überdenken und zu ändern. Sie tut es begründet, aber freiwillig – und ganz ohne »starken Mann« im übrigen auch.

Wenn ich die heutige Theresia beschreiben müsste, würde ich sagen, sie ist initiativ, sehr klar, sehr zielgerichtet und sehr direkt. Merkwürdigerweise wird sie aber von allen bisherigen Leserinnen der Geschichte anders gesehen. Die erste Reaktion auf Theresia ist beinahe einhellig, dass sie (zu) impulsiv und sprunghaft ist und es schwer fällt, sich mit ihr zu identifizieren und sie zu verstehen. Erst mit Fortschreiten der Geschichte, wenn Theresias Motive klarer werden und die Kommunikation mit Willem besser funktioniert, ändert sich das.

Willem hingegen wird als ruhig und ausgeglichen empfunden, obwohl man eigentlich genau so gut sagen könnte, er ist verschlossen, stur und oft schwierig. Ich werde tatsächlich häufig gefragt, wie es Willem mit Theresia aushält – dabei finde ich, Willem ist auf seine Weise mindestens ebenso launenhaft wie sie, und Theresia hat wesentlich mehr (und öfter) Arbeit damit, ihn zu konfrontieren, bis er mit der Sprache herausrückt. Aber es ist interessant zu sehen, wie unterschiedlich grundsätzlich gleiches Verhalten doch noch immer gewertet wird, je nachdem, ob es das einer Frau oder eines Mannes ist …

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